Die Zeit zwischen 1600 und 1945

Ein sehr langer Zeitabschnitt mit vielen Informationen

Die Zeit zwischen 1600 und 1945

von Assoc.-Prof. Dr. Wolbert Smidt

Als der Fürst im Mai 1600 die rechtliche Organisation der Stiftung per Bescheid ordnete, schuf er damit die Grundlage für die Stiftungsarbeit der kommenden Jahrhunderte. Da die aus den Stiftungsfamilien stammenden Stiftungsverwalter über die Jahrhunderte alle drei Jahre (und manchmal jährlich) ihre Einnahme- und Ausgabe-Rechnungen und die Listen der Stipendiaten bei der Aufsichtsbehörde einreichen mussten, haben wir seit dem frühen 17. Jahrhundert bis ins Jahr 1861 bemerkenswert detailliert erhaltene Aktenbestände mit umfangreichen Unterlagen im Staatsarchiv in Dessau, wo die Bestände früherer Stiftungsbehörden aufbewahrt werden. Spätere Bestände sind durch Bombardierung 1945 verloren gegangen, doch fanden sich noch vereinzelt Stammbuchauszüge, Akten und historische Abschriften bei verschiedenen Angehörigen. Aus der Frühzeit der Stiftung, also aus dem 16. Jahrhundert, fanden sich außerdem in späteren Akten noch einige Originale und Abschriften, insbesondere von den frühesten Familienbeschlüssen zur Verteilung der Stipendien seit den 1560er Jahren. Aus diesen Sammlungen ließ sich eine weitgehend vollständige Liste aller Stiftungsverwalter von 1525 bis heute erstellen. An dieser ist der Wandel der Zeit, der Wandel der Rechtspraktiken und auch von Kultur und Sprache oft lebhaft ablesbar.

Noch im frühen 17. Jahrhundert wurde das Konsistorium gegründet, die oberste Behörde des Fürsten, die kirchliche und schulische Angelegenheiten beaufsichtigte, und auch die aus der Reformation hervorgegangenen privaten Stiftungen zur Ausbildungsförderungen. Wegen erstiegener Erträge wurde es seit Mitte des 17. Jahrhundert allmählich möglich, gleich über ein Dutzend Schüler und Studenten jedes Jahr mit genügend Getreidelieferungen auszustatten, damit diese davon leben und studieren konnten. Die bei ihren Eltern lebenden Schüler erhielten wenig, doch die Studenten hatten genug, um auch auswärts studieren zu können. Damit trug diese Stiftung zur allmählichen Hebung der Berufsaussichten der Jugend der Region bei – mit der Folge, dass sich insbesondere seit dem 17. Jahrhundert immer mehr gebildete Berufe, von Pastoren bis zu bekannten Professoren und Staatsbeamten, unter den früheren Stipendiaten fanden. Zu unterstreichen ist auch die Bedeutung von Zerbst in der frühen Neuzeit: Es war nicht umsonst ein Zentrum der Reformation – es war eine wirtschaftlich blühende Stadt und ein Bildungszentrum. Das Gymnasium Illustre war eine Art Regionalhochschule, in der die Landeskinder studierten, und das auch Studenten und bekannte Professoren aus dem Ausland anzog. Diese Stiftung war – wie andere Zerbster Stiftungen – ein Teil dieser bis ins 18. Jahrhundert überregional blühenden Bildungslandschaft.

Der Rechtsbescheid von 1600 bedurfte gelegentlich der Ergänzungen – darum wurden schon 1604 neue Bestimmungen hinzugefügt. Und bei jeder Bestallung eines neuen Stiftungsverwalters durch die Behörden wurden nicht nur Ermahnungen hinzugefügt, das Stiftungsvermögen möglichst vorsichtig zu behandeln und es zu erhalten, sondern auch Rechtsregeln im Detail wiederholt. Da immer wieder neue Fälle auftraten, wurden diese Rechtsregeln 1732 und nochmal in den 1760er Jahren gesammelt und der damaligen Stiftungsverwaltung übergeben. Schließlich wurden die Prinzipien der Stipendienvergabe erstmals 1797 von der Familie in einer eigenen neuen Satzung (“Regulativ”) zusammengefasst, dann wieder erneut 1831, mit Ergänzungen 1836, 1851 und 1877 – bis schließlich der Familienausschuss 1884 eine neue vollständige Satzung schuf, die die gesamten gewachsenen Regeln der Stiftungsverwaltung und der Stipendienverteilung dokumentierte und ausformulierte. Diese Satzung galt trotz Schwierigkeiten in der Umsetzung bei veränderten Lebensbedingungen (zum Beispiel konnten Frauen nicht mehr in Stiftungsämter gewählt werden, was im 17. Jahrhundert noch ging und dann auch seit den 1960er Jahren nicht mehr beachtet wurde) bis ins Jahr 2000. Diese Satzungen sind einzigartige Rechtsdokumente, da sie die Entwicklung ein und der selben Rechtsinstitution über viele Jahrhunderte hinweg dokumentieren und damit auch die sich wandelnden Rechtsregeln ihrer Zeit.

Über mehrere Generationen hinweg, seit dem späten 17. Jahrhundert, wechselte der Stiftungsverwalter alle drei Jahre. Damit rotierte das Amt, mit dem auch achtbare Einkünfte verbunden waren, durch alle Familienzweige. Das gemeinsame Interesse hielt die verschiedenen Familienzweige zusammen, die sich regelmäßig zur Bestimmung des nächsten Stiftungsverwalters und der auszuwählenden Stipendiaten in Zerbst trafen. Wegen der stark angewachsenen Familie, von der sich seit dem 19. Jahrhundert auch immer mehr Zweige im Ausland befanden (schon im späten 16. Jahrhundert wurde festgehalten, dass auch “Ausländer” aus der Familie ihre Rechte behalten), wählte die Familie schließlich einen Familienausschuss, der die Verwaltung im Namen der Familie überwachen sollte. Dieser wird schon im frühen 19. Jahrhundert in Akten erwähnt.

Ein Problem war auch die sehr alte, aus dem Mittelalter stammende Bestimmung, dass immer der jeweils Älteste der gesamten Familie die Verwaltung der Stiftung innehaben sollte (der sogenannte “Collator”). Der Älteste war eine Art pater familias, der wie bei den alten germanischen Stämmen die gesamte Familie auch rechtlich vertreten konnte, und er hatte ursprünglich die gesamte Stiftungsverwaltung inne. Dies ging noch, als die Familie im 16. Jahrhundert nur aus einem Dutzend Personen bestand – doch danach? Zunächst war es oft so, dass ein von der ganzen Familie ausgewählter Ältester über mehrere Jahre als “Patronatsherr” in Vertretung der anderen Familienmitglieder die Einnahmen verteilte. Mit der Zeit wurde für eine gerechte Verteilung dadurch gesorgt, dass die Amtszeit auf drei Jahre begrenzt wurde – es begann so das oben schon erwähnte Rotationsprinzip, durch das jeder Zweig einmal drankam. Ein Nebeneffekt dessen war, dass so die Erinnerung an die Stiftung in jedem Familienzweig frisch blieb und weitergetragen wurde.

Schwierig waren die Zeiten des Dreißigjährigen Krieges. Die alte Magdalenen Goldtschmied, eine geborene Küchmeister, hatte den Stipendiengarten inne und verteilte die Einnahmen an junge Familienmitglieder, darunter ihre Enkel. Doch im Krieg gingen die Einnahmen der alten Stiftung immer mehr zurück, und die Verwaltung lief immer ungeregelter. In einem Nebenzweig gab es einen eingeheirateten Ratsherrn, Esaias Glein, der sich fortan darum kümmerte. Nach Jahren entbrannte ein ungeheurer Streit, da wegen der unruhigen Zeiten einige Familienzweige nicht beteiligt worden waren, und Glein musste nachweisen (was mit einigem Durcheinander auch gelang), dass seine Frau überhaupt zur Familie zählte. Dies war einer der Faktoren, der dafür sorgte, dass die Stiftungsverwaltung stark formalisiert wurde und das Amt regelmäßig zwischen den verschiedenen Familienzweigen weitergereicht wurde – ein System, das über Jahrhunderte hielt. Eine zweite Periode, in der die Stiftungsverwaltung erneut in Unordnung geriet und viele Zweige der Stifterfamilien nicht mehr an der Verwaltung beteiligt wurden, fällt erst in eine viel spätere Zeit – in die 1970er Jahre. Dies ist aber eine andere Geschichte und wird weiter unten erzählt werden!

Die Gerechtigkeitsforderungen führten zu immer genaueren Regeln und Handhabungen. Je nach Klassenstufe und Alter wurde die Menge an Getreide definiert, die ein Schüler oder Student bekommen konnte. Die zahlreichen erhaltenen Abschlussrechnungen geben detailliert Auskunft darüber. Konnte ein Student in frühesten Zeiten noch mehrere Jahre lang davon studieren, wurde die Zahlung schließlich auf drei Jahre begrenzt. Die Zahl der Studenten wurde immer größer. Die Schüler mussten wiederum (das war Inhalt der Bestimmung von 1604) immer eine Prüfung am Zerbster Gymnasium Illustre über sich ergehen lassen, ob sie der Förderung überhaupt würdig waren. Auswärtige Schüler mussten dafür extra anreisen. In späterer Praxis genügten meist Zeugnisse, da auch diese immer mehr formalisiert wurden. Dabei flog auch schonmal ein gefälschtes Zeugnis auf!

Es wurden auch immer genauere Altersregister geführt. Wer als Familienältester Verwalter werden wollte, musste sein Alter auf das Datum genau nachweisen – und da entschieden manchmal mehrere Monate Unterschied zwischen den Kandidaten! Durch die gesteigerte Formalisierung ergaben sich nun aber auch gesteigerte Chancen für ungeeignete Personen: Zur Mitte des 18. Jahrhunderts geschah es einmal, dass der Älteste ein Analphabet war (so wurde er beschimpft, aber die Dokumente zeigen, dass er doch etwas schreiben konnte, aber tatsächlich sehr wenige Kenntnisse hatte) – und dann wenige Jahre später ein Blinder. Diese Situation überzeugte die Familie und das aufsichtsführende Konsistorium, dass es besser sei, einen dauerhaften Verwalter einzusetzen. Das Amt des Ältesten wurde allerdings fortgeführt – bis heute ist der Älteste nach den alten Rechtsregeln der Stiftung potentiell das wichtigste Oberhaupt der Stiftung (was z.B. dazu führte, dass noch 1993, als alle Stiftungsorgane unbesetzt waren, der damalige Familienälteste mit der Stiftungsverwaltung beauftragt wurde). Das Amt rotiert, nach der alten Regel, alle drei Jahre, wurde aber schrittweise eher zu einer Art Ehrenvorsitz. In dessen Namen wurde ein Verwalter, auch dieser aus der Familie, eingesetzt, der oft viele Jahre und manchmal Jahrzehnte die Stiftungsgeschäfte führte. Dies brachte eine enorme Stabilität in diese alte Institution, wie die Akten zeigen.

Im 19. Jahrhundert begann schließlich eine besondere Phase der Stiftungsgeschichte. Zerbst blühte, war Zentrum eines kleinen Staatswesens, und war geprägt von wichtigen Intellektuellen, einem hochrangigen Schulwesen und neuen historischen Forschungen und zahlreichen Publikationen. Die Pastorenfamilie Mann übernahm zeitweise die Verwaltung der Stiftung, gefolgt von Professor Franz Kindscher, der über mehrere Jahrzehnte als Vorsitzender des Familienausschusses amtierte. Historisch Interessierten ist Kindscher heute noch bekannt als der Archivar des Zerbster Staatsarchives und Verfasser zahlreicher historischer Schriften – und eben auf diesen gehen auch die ersten historisch ernsthaften Forschungen zur Geschichte dieser damals schon alten Stiftung zurück. Gefolgt wurde er im Familienausschuss vom Pfarrer von St. Nicolai Max Reichmann, der in einem Werk zur Kirchengeschichte auch auf die Rolle der Stiftung in der Reformationszeit eingeht.

Das immer besser geordnete historische Material, die in vielen deutschen Ländern blühenden Gymnasien und Universitäten führten auch zum Bedürfnis der besseren Dokumentation der Stiftungsfamilien. 1832 veröffentlichte die Stiftung eine rund 500 Personen umfassende Liste aller bekannten Angehörigen der Stiftungsfamilien. Im späteren 19. Jahrhundert begannen weitere Versuche, einzelne Stiftungsfamilien zu dokumentieren. Der Kröhnesche Familienverband formierte sich und brachte bis zum 20. Jahrhunderte detaillierte Zusammenstellungen ihrer Nachfahren heraus. Der damals in der Region bekannte Publizist und Historiker Gottlieb (oder “Theophilus”) Stier, Zerbster Gymnasialdirektor, stellte die Mitglieder der Familien Nitzsch – einer bekannten Gelehrtenfamilie der Zeit mit zahlreichen Professoren – und Stier zusammen, die nach seinem Tod veröffentlicht wurden.

Der Erste Weltkrieg und die Revolution von 1918 brachten auch für die Stiftung wichtige Änderungen. Die Kirchenbehörde, das Konsistorium, wurde aufgelöst, und im Zuge der endgültigen Trennung von Kirche und Staat wurden Staatsbehörden als Nachfolger für die Stiftungsaufsicht bestimmt. Aufgrund verlorener Akten ist inzwischen unklar, wie der Übergang im Detail verlief. Aus dem Konsistorium ging die neue vom Staat unabhängige Selbstverwaltung der Kirche hervor, der Landeskirchenrat, dem auch das Familienmitglied und der frühere Konsistorialrat Oskar Pfennigsdorf angehörte. Der Landeskirchenrat behielt zumindest einen größeren Teil der Akten, und wir wissen, dass er einen Teil der Aktivitäten des Konsistoriums auch in Stiftungssachen fortführte – die Stiftungsaufsicht lief nun in Fortsetzung der Gewohnheit weiter im Landeskirchenrat, während sie nach dem Gesetz dem Staat obliegte. Als der Landeskirchenrat in Dessau 1945 von Bomben schwer getroffen wurde, gingen auch zahlreiche Akten verloren, weshalb wir wenig über die Stiftungsaufsicht seit Ende des 19. Jahrhunderts wissen. Ein paar Lücken werden dadurch gefüllt, dass es bis zum Untergang der Monarchie üblich war, in Zerbster Zeitungen und Hofkalendern Annoncen der Stiftung zu publizieren.

Wir wissen, dass auch bis 1945 weiterhin der Collator alle drei Jahre wechselte, durch verschiedene Familienzweige wanderte, Stipendien regelmäßig gezahlt wurden, und die Stiftungsverwaltung selbst (“Administration”) weiterhin über Jahrzehnte in der Hand einiger weniger Familienangehöriger lag. Allerdings ist das frühe 20. Jahrhundert wenig dokumentiert, da auch in diesem Fall die Bomben alles zerstörten: Der Stadtkommandant von Zerbst, ein überzeugter Nazi, weigerte sich im April 1945, die Stadt den Amerikanern zu übergeben, woraufhin diese heftig bombardiert wurde. Das schöne alte Zerbst verschwand. Mit verloren gegangen sind fast alle Unterlagen der Stiftungsverwaltung, und ebenso das alte Stammbuch aus dem 18. Jahrhundert, das alle Mitglieder der Stiftungsfamilien erfasste, sofern sie sich angemeldet hatten. Allerdings hatten viele Familienmitglieder Abschriften aus den Stammbüchern angefertigt, und so gelang es dem Administrator Karl Partheil in den Jahren nach 1945, das Stammbuch neu anzufertigen – womit wir die meisten Zweige heute wieder zu den Stiftungsgründern zurückführen können.